C(h)orona

Kann Singen lebensgefährlich sein? In einem Kirchenchor?

Was für eine ungewöhnliche Frage – eine Frage, die ich mir in den 34 Jahren meines Dienstes an der Paul-Gerhardt-Kirche nie gestellt habe. An keinem der unzähligen Dienstagabende, an denen wir regelmäßig proben, an keinem der Sonntage, an denen wir Gottesdienste begleiten, an keinem der Wochenenden, an denen wir große Konzerte vorbereiten konnten.
Und heute? Heute muss ich diese Frage mit „Ja“ beantworten. Eine erschütternde Erfahrung!

Doch von vorne: Etwas beunruhigt war ich schon, als ich im Januar am Leipziger Bahnhof mit einer größeren asiatischen Reisegruppe in den ICE nach München stieg. Hatte man doch in den Nachrichten von einer sich schnell verbreitenden Atemwegsinfektion in China gehört. Der Mund-Nase-Schutz, den die Reisenden trugen, schien jedoch eine in asiatischen Ländern sehr gebräuchliche Schutzmaßnahme zu sein.
Als die ersten Infektionen mit dem neuen Virus im Gautinger Ortsteil Stockdorf auftraten, fragte ich mich, ob unsere Gautinger Chormitglieder in Gefahr sein könnten. Doch alle verglichen diese neue Erkrankung mit der jährlich auftretenden Grippe und zerstreuten meine Bedenken. Auch als ich am 7. März mit einer Halsentzündung Richtung München aufbrach, schien alles noch ganz „normal“, auch wenn ich im Gottesdienst am 8. März vorsichtshalber nicht am Abendmahl teilnahm.

Dieser 8. März war bis heute (ich schreibe diese Zeilen im Mai) das letzte Mal, dass wir im Paul-Gerhardt-Chor gemeinsam gesungen haben. Mehr als zehn Wochen Pause – die längste Chorpause, die es in der 75-jährigen Geschichte des Paul-Gerhardt-Chors je gab!
Nur allmählich bahnte sich diese einschneidende Entwicklung an. Wir standen ja gerade in der „heißen“ Phase kurz vor unserem monatelang vorbereiteten Passionskonzert mit zwei ganz besonders schönen Kompositionen. In meinem „Erkältungs-Krankenlager“ erreichten mich zunächst vage Bedenken hinsichtlich möglicher Ansteckungsgefahren für Chorsänger, Orchestermusiker und Zuhörer. Würden wir es wagen können, unsere Passionsmusiken wie geplant aufzuführen? Mit über 130 Mitwirkenden und vielen z.T. älteren Freunden und Bekannten im Publikum, alle „auf Tuchfühlung“ in unserer Paul-Gerhardt-Kirche, und beim Singen und Musizieren intensiv aus- und einatmend?

Aber was wäre, wenn nicht? Finanzielle und rechtliche Fragen waren kurzfristig zu erörtern, während in Politik und Kirche Vorsichtsmaßnahmen zum Schutz vor Ansteckung entwickelt wurden.
Und dann mussten wir tatsächlich unser für den 29. März geplantes Konzert absagen und – da alle Chorproben und Veranstaltungen verboten waren – auch das Gottesdienstsingen in der Karwoche und an Ostern. Für uns Kirchenmusiker bis dahin unvorstellbar!

Dieses Verbot gilt nach heutigem Stand noch bis Ende August. Also dürfen auch unser Pfingstsingen und das Sommerkonzert mit Psalmvertonungen nicht stattfinden. Hintergrund ist die aktuell wieder bestätigte Annahme, dass sich beim Singen in geschlossenen Räumen das Virus innerhalb von 15 Minuten im ganzen Raum aus-breiten und Menschen infizieren kann.
Dies sind die Fakten.

„Singen muss man ja nicht“, sagte eine Mathematik-Kollegin an meiner Schule, als wir uns über die Corona-Einschränkungen unterhielten.
Muss man nicht? Wirklich?

Was fehlt? Es fehlen die wöchentlichen Begegnungen und Gespräche mit langjährigen Vertrauten, Freunden, „neuen Bekannten“, Menschen, die auf „derselben Wellenlänge“ liegen, weil sie die „wohltuende / stärkende“ Wirkung des gemeinsamen Singens erleben. Gerade für allein lebende Menschen ist das wichtig.

Chorsingen tut in jedem Alter Körper, Geist und Seele gut. Beim anfänglichen „Einsingesport“, tiefen Atemholen, Erspüren der eigenen Resonanzräume und dem gemeinsamen Klangerlebnis können sich die Anspannungen des Alltags lösen. Bibeltexte, Gebete und Kirchenliedstrophen verstehen und erleben wir immer wieder neu, wenn wir sie in den ganz unterschiedlichen Klangsprachen der Komponisten erarbeiten und in unser tägliches Leben „mitnehmen“ können, seien wir Ausführende oder Zuhörer in Chorprobe, Gottesdienst und Konzert.
Diese – nicht nur in meinem Leben – ganz elementaren „Lebensmittel“ bergen nun eine Gefahr für Leib und Leben. Und mit dem „schweigenden“ Paul-Gerhardt-Chor „verstummt“ – zumindest vorübergehend – eine lebendige Stimme im Leben der Paul-Gerhardt-Gemeinde.

Wie geht es weiter?
Weiterhin sprechen wissenschaftliche Untersuchungen von einem hohen Infektionsrisiko beim Chorsingen, gefährlich besonders für ältere und vorerkrankte Menschen. Deshalb werden wir – wie in allen Bereichen des öffentlichen Lebens – den Empfehlungen der Fachleute folgen und zunächst auf gemeinsames Singen verzichten (müssen). Sobald es möglich sein wird, werden wir versuchen, in vorsichtigen „Zwischenschritten“ (z. B. kleinen Besetzungen in großen Räumen oder im Freien mit gebotenem Abstand) allmählich wieder zum Singen zurückzukehren, vielleicht auch im Gottesdienst. Bis dahin werden uns Telefonate, Emails, Online-Chorproben, Aufnahmen, vor allem aber der reiche Schatz an Chormusik, den wir schon „im Herzen“ tragen, durch diese hoffentlich nicht mehr zu lange Phase helfen.

Denn Chorsingen ist lebensbereichernd!

Ilse Krüger-Kreile