Nachruf Luise Müller

Als ich vor fast zwanzig Jahren als Pfarrerin nach Paul-Gerhardt kam, war Frau Müller in meiner Wahrnehmung eine der wichtigsten Persönlichkeiten im Gemeindeleben, gerade in der Seniorenarbeit (zusammen mit Menschen wie Horst Stimpel, Margarete Böer, Richiza Braun und Alexander Schöttl).

Manche kennen sicher noch die Fernsehsendung “Was bin ich?” mit Robert Lembke: Menschen zeigen eine typische Handbewegung, um ihren Beruf zu beschreiben. Zu Frau Müller fallen mir gleich drei ein: Als erstes die, mit der sie beim Seniorenkochen ihre Schürze glattgestrichen hat.
Es ist mir ein Rätsel, wie man derart aufwändig für so viele Leute kochen und dann eine ausnahmslos blütenreine, gebügelte Schürze tragen kann! Pünktlich mit dem Zwölfuhrläuten legte sie die besagten Hände mit ihrem und dem Ehering ihres verstorbenen Ehemannes dann auf die Lehne des Stuhles, hinter dem sie stand, um “Verleih uns Frieden gnädiglich“ zu singen.

Die zweite typische Handbewegung ist jene, mit der sie beim Essen die Bierflasche, halb voll, über den Tisch zu Frau Böer geschoben hat, um mit ihr zu teilen. Bei diesem Mittagstisch versammelten sich vierzehntägig zwischen zehn und fünfzehn Menschen zu einem Dreigänge-Menü. Früh um halb sieben wurde mit den Vorbereitungen begonnen. Das Gemeinschaftsgefühl der Gemeinde lebte von diesem Festmahl, es rankten sich auch Rituale drum herum: Ich denke an die Tradition des Wunsch-Menüs zu Geburtstagen, daran, dass hier die Zivis “durchgefüttert” wurden und mit aufgenommen wurden in die Gemeinschaft. Mit derselben Handbewegung, mit der die Bierflasche über den Tisch geschoben, wurde danach auch das Salz und später unweigerlich das “Kässle” weitergegeben: eine Kollektendose für den Seniorennachmittag (Oder war es die Bibelstunde? Nun: irgendwas war immer los.).

Die dritte typische Handbewegung: Beim Sprechen hat sie gern die Hand auf den Arm des Gesprächspartners gelegt und damit ihren Worten Nachdruck verliehen.

Begegnet ist man Luise Müller nicht nur im Gemeindehaus oder in der Kirche, beim Gottesdienst und bei Konzerten; begegnet bin ich ihr auch auf Hausbesuchen. Genauer: sie war – das war die Regel – schon vor mir da gewesen und längst wieder fort… Wir waren gemeinsam auf den legendären Seniorenausflügen, wo jeder und jede gern mitgenommen, jeder und jede geduldig ertragen wurde, jeder im Blick war: auch meine Älteste erinnert sich mit Rührung an Frau Müller von diesen Ausflügen her, wo sie (die Tanja) als kleines Mädchen dabei war.
Begegnet bin ich Luise Müller auch auf Krankenhausfluren und an Sterbebetten. Wo andere gern mal sagen: “Ich mag keine Krankenhäuser, da riecht es so komisch, das ist so deprimierend”, da stand Frau Müller beherzt am Bett: wir haben gebetet, Abendmahl gefeiert, sie hat getröstet, Hände gehalten, und am Schluss ist sie mit auf den Friedhof gegangen.

Sie war es auch, die mich aufmerksam gemacht hat, wie mühsam für manche das Leben im Alter werden kann – und dass Menschen in einem gewissen Alter vielleicht noch gerne zum Gottesdienst kommen würden, aber den Weg insbesondere über die lange Treppe nicht mehr schaffen. Deshalb geht der Aufzug in die Kirche auf ihre Initiative zurück. Sie hat ihn auch selbst großzügig mitfinanziert.

Ich habe viel von ihr gelernt, sie bewundert und verehrt, und ich vergesse sie nicht.
Gott schenke ihr jetzt das ewige Leben.

Kathrin Frowein, Pfarrerin in Paul-Gerhardt von 2001-2006