Sonntags um halb zehn in Paul-Gerhardt

Themenreihe: Gottesdienst

Jeden Sonntag um kurz vor halb zehn laden die Glocken der Paul-Gerhardt-Kirche zum Hauptgottesdienst „in traditioneller liturgischer Form“ ein, wie es im Info-Blatt der Gemeinde zu lesen ist.

Die Bezeichnungen sind missverständlich und können falsche Vorstellungen wecken. Das Wort „Hauptgottesdienst“ stammt noch aus einer Zeit, in der auch in den evangelischen Kirchen wöchentlich mehrere Gottesdienste – sowohl sonntags als auch werktags – gefeiert wurden. Und eine „Liturgie“, also einen Ablauf, haben alle Gottesdienste – auch und entgegen der landläufigen Meinung die sogenannten „freien Gottesdienste“, bei denen interessanterweise oft eine Abweichung von der gewohnten Form viel kritischer gesehen wird als bei der „traditionellen“ Liturgie.

Wer in Paul-Gerhardt den Hauptgottesdienst besucht, dem fallen vor allem zwei Besonderheiten auf: Die reiche Gestaltung – auch musikalisch durch Orgel, Solisten und Chor und oft mit vielen Wechselgesängen zwischen Gemeinde und Pfarrer/in, sowie die sonntägliche Abendmahlsfeier. Für viele wirkt das zunächst fremd, vielleicht „katholisch“ – was ebenso falsch wie richtig ist.

Die Grundform des Hauptgottesdienstes (mit Abendmahl) in den evangelisch-lutherischen Kirchen Deutschlands geht auf die  „Deutsche Messe“ oder „Evangelische Messe“ zurück, die Martin Luther 1526 zusammenstellte. Er orientierte sich dabei stark an der bisherigen römischen (katholischen) Messfeier, allerdings mit dem Unterschied, dass der Gottesdienst nun in Deutsch bzw. der jeweiligen Landessprache gefeiert wurde, die katholische Opfer-Theologie, die den Reformatoren ein Dorn im Auge war, entfernt und den Gläubigen bei der Kommunion auch der Kelch gereicht wurde. Neu hinzu kamen die Choräle der Gemeinde (ebenfalls auf Deutsch), die bis heute ein deutliches Erkennungszeichen evangelischer Gottesdienste sind und ohne die die Lieder Paul Gerhardts und die Musik Johann Sebastian Bachs nicht denkbar wären.

In der „Confessio Augustana“, dem Augsburger Bekenntnis aus dem Jahr 1530, heißt es im Artikel 24:
„Von der Messe (Vom Gottesdienst):
Die Messe ist von den Evangelischen nicht abgeschafft worden…Die gottesdienstlichen Formen sind nicht merklich geändert worden. Man hat aber den Irrtum abgeschafft, die Messe sein ein Opfer für Lebendige und Tote, mit dem man Sünde wegnehmen und Gott versöhnen könne. Die Schrift zeigt an vielen Orten an, dass es kein anderes Opfer für die Erbsünde und alle anderen Sünden gibt als allein den Tod Christi (Hebräer 9, 28; 10, 10; 10, 14)…“

Zu Luthers Zeiten – und noch lange danach – war es selbstverständlich, dass die evangelischen Gottesdienste liturgisch-festlich gestaltet waren, jeden Sonntag das Abendmahl gefeiert wurde und die Pfarrer Messgewänder wie die katholischen Priester trugen.

Dies änderte sich mit der Aufklärung, als die Predigten immer länger (aber deshalb nicht unbedingt geistreicher) wurden und das Abendmahl in eine düstere „Ermahnungs- und Sünden-Ecke“ verdrängt und – weil vermeintlich weniger wichtig als die Predigt – nur noch höchst selten gefeiert wurde.

Erst mit dem Neuendettelsauer Pfarrer Wilhelm Löhe (1808 – 1872), der als Erneuerer des lutherischen Gottesdienstes gilt und seine Gemeinde zur Abendmahlsliturgie knien ließ, begann – langsam und zögerlich – ein Umdenken, das sich ab den 1920er Jahren in der Liturgischen bzw. „Hochkirchlichen“ Bewegung (Michaelsbruderschaft, Berneuchener Dienst etc.) fortsetzte und sich schließlich 1957 auch auf die „Agende I“, die erste einheitliche Gottesdienstordnung für alle evangelischen Landeskirchen Deutschlands, auswirkte.

Wertvolle Impulse, das Abendmahl als Freudenfest wieder zu entdecken und es in die Gottesdienste zurück zu holen, kamen auch aus der Ökumene und von den Kirchentagen.

Dass die sonntägliche Abendmahlsfeier im evangelischen Gottesdienst, wie sie in Paul-Gerhardt seit vielen Jahren praktiziert und positiv angenommen wird, trotzdem bis heute eher selten anzutreffen ist, ist weder biblisch noch reformatorisch begründet.

Mit der Einführung des derzeitigen Gesangbuches im Jahr 1994 wurden die Gottesdienstformen noch einmal überarbeitet und erneuert. In Paul-Gerhardt wird der Hauptgottesdienst nach der Form „G 4“ (im Gesangbuch ab Nummer 682) gefeiert. Der Liturgie liegt eine über Jahrhunderte gewachsene Dramaturgie zugrunde, deren Ablauf sich am Kirchenjahr, das am Ersten Advent beginnt, orientiert. Dies merkt man nicht nur an den wechselnden Lesungen und Liedern, sondern auch an den unterschiedlichen Eingangspsalmen (dem sog. „Introitus“) oder z.B. am Wegfall des Glorialiedes und des Hallelujas in der Passionszeit oder im Advent.

Die Liturgie ist dabei nicht Selbstzweck oder Selbstdarstellung von Pfarrern, Musikern etc., sondern verweist auf die Schönheit, Heiligkeit und auf das Unsagbare, das zwischen Gott und Mensch im Gottesdienst geschieht. Von daher werden Gottesdienste auch nicht „gehalten“ oder gar „durchgeführt“, sondern immer „gefeiert“ – als Fest der Begegnung von Gott und Mensch – im Abendmahl an einem Tisch vereint. Und letztendlich dürfen, ja sollen auch im sonst so verkopft-wortlastigen evangelischen Gottesdienst alle Sinne angesprochen werden – nicht nur im Abendmahl, sondern zunehmend auch wieder in Symbolen und Gesten wie Segnung und Salbung, Tauferinnerung, Aschenkreuz, Weihrauch uvm.

Der Hauptgottesdienst: Von manchen verpönt – „zu früh, zu steif“ – und von ebenso vielen (auch jüngeren)  genau deshalb geschätzt. Die Paul-Gerhardt-Gemeinde tat jedenfalls gut daran, Ende der 1970er Jahre den Hauptgottesdienst nicht zu verändern und dafür den damals schon als schlichten Predigtgottesdienst vorhandenen „Spätgottesdienst“ als moderne Alternative auszubauen.

Vielleicht schauen Sie mal vorbei, am nächsten Sonntag, wenn um kurz vor halb zehn in Paul-Gerhardt die Glocken zum Hauptgottesdienst einladen.

Alexander Schöttl, Stadtkirchner

Weitere Beiträge zur Themenreihe Gottesdienst im Gemeindebrief Frühjahr 2021 und hier online.