Von der „Freiheit eines Christenmenschen“ – Freiheit

Themenreihe: Freiheit

Wo soll das Ganze enden? Am Zeitungsständer lese ich von einer „Demo für die Freiheit“ – einige Hundert Menschen haben gegen die nächtliche Ausgangssperre protestiert. Doch das ist ja nicht alles: Seit mehr als einem Jahr schränkt die Politik unsere Berufsfreiheit, unsere Reisefreiheit, die Freiheit im Miteinander und vieles mehr massiv ein. Um die Freiheit scheint es in Corona-Zeiten schlecht bestellt zu sein.

Luther vor dem Reichstag zu Worms – Historiengemälde von Anton von Werner

Zugleich erinnern wir uns in diesen Tagen – ich schreibe diese Zeilen im April – an das 500. Jubiläum des Reichstags zu Worms, wo sich Martin Luther 1521 weigerte, seine Schriften zu widerrufen. Dass er sich der Autorität der damaligen staatlichen und religiösen Macht widersetzte, gilt als wichtiges Datum in der Geschichte der Gewissens- und Religionsfreiheit.

Freilich: Mit einem (modernen?) Freiheitsbegriff, der darauf hinausläuft, tun und lassen zu können was man will, hatte Luther nichts im Sinn. Er sah den Menschen nicht als autonomes Einzelwesen, sondern immer in Beziehung zu Gott und den Mitmenschen. So sagte er in Worms denn auch, dass er seine Schriften nur widerrufen könne, wenn er „durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde“.

Zuvor hatte er in seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ aus dem Jahr 1520 zwei Aspekte benannt, die beim ersten Blick widersprüchlich erscheinen. „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan.“ Und dann: „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Luther knüpft damit an Worte des Apostels Paulus an, der schrieb: „Ich bin frei in allen Dingen und habe mich zu eines jedermanns Knecht gemacht.“ Sowie: „Seid niemandem etwas schuldig, außer dass ihr euch untereinander liebt.“

Für den Christen gibt es, darauf weist Luther hin, verschiedene Ebenen der Freiheit. Es gibt zunächst einmal die geistliche Ebene, die vom Verhältnis zu Gott bestimmt ist. Da alles, was den Menschen vor Gott gut und gerecht macht, nicht durch menschliche Kraftanstrengungen oder gute Werke geleistet werden kann, sondern uns allein durch die Gnade Gottes geschenkt wird, hat derjenige, der an Christus glaubt, Frieden mit Gott. Er muss sich nicht mehr für das Seelenheil abrackern, sondern kann gelassen und damit auch mit großer innerer Freiheit leben.

Heißt das nun, dass dem Christen vor lauter Freiheit alle anderen egal sein können? „Nein, lieber Mensch, so nicht“, antwortet Luther, um in seinem Traktat zu entfalten, dass gerade diese innere Freiheit des Glaubens einen dazu frei macht, „anderen zu dienen und zu nützen“. Christliche Freiheit zeigt sich also nicht in Selbstverwirklichung, sondern in Nächstenliebe. So kann die innere Freiheit, die der Glaube schenkt, auch manchmal den Verzicht auf das Durchsetzen der eigenen Wünsche und Vorstellungen bedeuten. Das geht über die politische Grundregel, dass Freiheit dort endet, wo sie die Rechte von anderen verletzt, weit hinaus.

Was heißt das nun in Corona-Zeiten? So sehr man über die Sinnhaftigkeit und die Verhältnismäßigkeit mancher Maßnahmen streiten kann, so sehr kann ich als Christ in innerer Freiheit Verzicht üben, um anderen zu dienen. Also beispielsweise, um mitzuhelfen, dass nicht zu viele Menschen infiziert und Krankenhäuser überlastet werden.

Es gibt also einen freiwilligen Verzicht aus Liebe. Und auch darauf weist Martin Luther in der Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ hin – indem er auf das Beispiel Jesu verweist, der, obwohl er doch Gottes Sohn war, auf all seine Macht verzichtete, um uns Menschen von der Sünde zu retten, wie es im Philipper-Brief heißt. Warum? Aus purer Liebe.

Freiheit ist daher in christlicher Sicht nie ohne die Liebe zu denken: Gott schenkt uns aus Liebe die Freiheit von der Sünde. Diese Freiheit wiederum zeigt sich in unserem Leben im Tun der Liebe. Der Theologe Timothy Keller hat es so gesagt: „In Christus hat Gott uns so tief gesagt, wie es nur möglich ist: ‚Ich gehe auf dich ein. Ich will dir dienen, auch wenn dies für mich Opfer bedeutet.‘ Wenn Gott das für uns getan hat, dann können und sollten wir das Gleiche für Gott und unsere Mitmenschen tun.“

Hans-Joachim Vieweger