Big Brother is watching you!?
Auch wer den Klassiker 1984 von George Orwell nie gelesen hat, kennt vermutlich seinen bekanntesten Satz daraus: Big Brother is watching you – Der große Bruder beobachtet dich! Der große Bruder steht in jenem Werk für den totalitären Staat, der seine Bewohner überall und rund um die Uhr observiert und damit ein Klima der Unfreiheit und der Angst hervorruft.
An Orwells Big Brother musste ich spontan denken, als ich die Jahreslosung für 2023 las: Du bist ein Gott, der mich sieht. Denn Generationen von Kindern wurden doch früher mit dem warnenden, ja drohenden Satz erzogen: Der liebe Gott sieht alles! Und haben daraus folgerichtig ein Gottesbild entwickelt, wonach Gott eine Art Aufseher ist, der alle unsere Worte und Taten, ja selbst unsere Gefühle kennt, kontrolliert und schließlich bestraft. Wie schrecklich, wenn man an solch einen Gott glauben muss!
Natürlich spricht auch etwa Psalm 139 von der Allwissenheit und Allgegenwart Gottes: Herr, du erforschst mich und kennst mich… und siehst alle meine Wege. Aber David schreibt diese Verse doch nicht aus einem Gefühl der Angst heraus, sondern – ganz im Gegenteil – aus einem Gefühl ruhiger und tiefer Geborgenheit. Und so ist auch das Wort für das Neue Jahr 2023 gemeint: Als Zusage an uns, dass Gott keinen von uns übersieht, sondern vielmehr jeden einzelnen im Auge behält, ihn begleitet und beschützt. Dass er dabei auch unsere schwachen, schlechten Momente mitbekommt, versteht sich von selbst. Aber das hat zumindest den Vorteil, dass wir ihm nichts vormachen können/müssen, so wie wir das immer wieder gegenüber Menschen tun.
Der Gott, der mich sieht, das ist der Gott, der mich kennt. Und das zu glauben und zu wissen, das hat für mich etwas unglaublich Befreiendes, ja geradezu Zärtliches! Diesen Gott zu erleben im Neuen Jahr, das ist mein Wunsch für uns alle…
Pfarrer Lorenz Künneth