Die Pfarrer kommen und gehen – der Stadtkirchner bleibt.
Seit mehr als fünfundzwanzig Jahren sorgt er für die Paul-Gerhardt-Kirche und ihre Gemeinde. Seine Arbeit prägt den Eindruck, den sie auf die Menschen macht; weil er so präzise, korrekt und verlässlich da ist und sich um Menschen genauso kümmert wie um Haus und Hof, drum ist sein Gesicht in gewisser Weise auch das Gesicht der Gemeinde und der Stadtkirchner mit seinem Dienst ihr Aushängeschild.
Er kennt seine Grenzen. Als bekennender Perfektionist bastelt er selten selber provisorische Heimwerkerlösungen für Reparaturen; er holt die Handwerker, die die Sachen fachkundig richten und bei der Preisgestaltung seinem Charme und der Kunst, hart zu verhandeln, erliegen.
Deshalb sind Haus und Hof auch in Schuss, und vor allem verhindert er überaus wirksam die Entstehung von Gerümpelecken und Sammelstellen für Unaufgeräumtes in seinem Hoheitsbereich.
Er respektiert aber auch alle Grenzen in den Arbeitsfeldern der Mitarbeitenden. Alexander ist loyal, hält das Andenken an „Papa Künneth“ in Ehren und arbeitet mit Haupt- und Ehrenamtlichen samt der vielen Ruheständlern unter der Pfarrerschaft gleichermaßen zusammen – aber wer „in Amt und Würden“ ist, der ist für ihn Autorität und wird bei Bedarf vor Gemeinde, Ehrenamtlichen und allen grauen Eminenzen energisch verteidigt.
Ich bin längst doppelt so lang aus Paul-Gerhardt weg, wie ich je dort Stelleninhaberin war (2001-2006). Die fünf Jahre der Zusammenarbeit mit Alexander haben mich für mein Leben geprägt. Nicht nur,dass ich nie vorher und nachher je in ein Pfarrhaus eingezogen war, das derart penibel und pünktlich geräumt, saniert, renoviert und bezugsfertig war. Ich lege jetzt auch selbst größten Wert auf Ordnung und Sauberkeit in der Sakristei und am Altar; ich ertrage weder schmutzige Tischtücher noch Lippenstiftspuren an Kelchen, ich leide, wie Alexander, körperlich, wenn Altarkerzen schief stehen, ich wische Kelche grundsätzlich nicht mit winzigen, trockenen Spitzentaschentüchlein, sondern mit ordentlichen Papierservietten und Alkohol; und immer mal wieder wundere ich mich, wenn ich auswärts Gottesdienst halte: hoch feierlich gestaltet man in der Regel die Liturgie. Die Hostien allerdings werden erst zur Gabenbereitung aus dem knistenden Zellophan in selbstgetöpferte Dosen gefummelt, und man bietet mir aufgeblähte Tetrapaks mit vergorenem Johannisbeersaft als „Abendmahlswein“ an („der steht schon länger, den dürfens vorher nicht probieren!“). Mit dem Alexander könnte einem das alles nicht passieren.
In 25 Dienstjahren hat er geschätzte zweitausend Gottesdienste mitgefeiert, und zwar ohne, wie das manche Mesner handhaben, strickend oder lesend in Sakristei oder Glockenraum das Ende der Feier abzuwarten. Alexander hört aufmerksam zu und ordnet das Gehörte auf Nachfrage bereitwillig auf der schöttlschen Messlatte ein: Am untersten Rand steht auf dieser Messlatte ein verächtliches „blühender Blödsinn“. „Toll.“ (mit Punkt. niemals mit Ausrufezeichen!) ist dagegen sein höchstes Lob. Euphorischer wird seine Anerkennung nie, und diese Auszeichnung ist ausgesprochen selten und kostbar (eigentlich unerreichbar für Pfarrerinnen und Pfarrer – vorrangig reserviert für die Aufführungen des Paul-Gerhardt-Chores unter der Leitung der von ihm hoch verehrten Ilse Krüger-Kreile).
Nachdem er selbst Gottesdienst gehalten hat, stellte dagegen ein freundlicher Herr beim Händeschütteln am Ausgang fest: „Es ist schon erstaunlich: jetzt seid ́s ihr so viele Pfarrer hier – aber die besten Predigten hält der Hausmeister…!“ Ob es um die Frauenordination geht oder das Lossagegebet, um Fairness im Umgang mit Mitarbeitern und/oder Aussenseitern, Alexander macht aus seinem Herzen keine Mördergrube und sagt, was er denkt. Dabei argumentiert er nicht nur theologisch sauber und in sich schlüssig, sondern vor allem barmherzig und menschenfreundlich. Viele Jahre hat er sich in der Mitarbeitervertretung engagiert. Den Pennern vor der Kirchentür serviert er Kaffee, ehe er sie vor dem Gottesdienst freundlich um einen Ortswechsel bittet; auch denen, die andere gern weit weg von Kirche und Gemeinde sehen würden, macht er Haus- und Krankenbesuche, und mancher, der oder die hauptsächlich wegen der Kekse danach an den Werktagsgebeten teilnahm, wurde von ihm immer mal wieder auf seine Rechnung zum Essen ausgeführt. Ich hatte Konfirmanden, die mich zur Verzweiflung brachten. Einer beschmierte gar während des Gottesdienstes die Orgel. Er wurde von Alexander unbestechlich überführt, bekam Eimer und Lappen in die Hand gedrückt, und, nachdem er lammfromm geputzt hatte, gab es vom Stadtkirchner ein herzliches Wort der Anerkennung und eine Tafel Schokolade.
Sein großes Herz für junge Menschen brachte ihn dazu, Konfifreizeiten und Klassenreisen der Lukasschule vorzubereiten und zu begleiten, und mehr noch als seine sachkundigen Führungen könnte die Schüler die Selbstverständlichkeit beeindruckt haben, mit der der Glaube beim Alexander zum Alltag gehört und wie bereitwillig und gewinnend er darüber spricht. Er hat ein Herz für junge Menschen – und auch für die nicht mehr ganz so jungen. Ein Kreis von etwa zwanzig Damen hat sich noch zu Beginn meiner Dienstzeit in Laim unter der Leitung von Horst Stimpel Woche für Woche zur Seniorenbibelstunde getroffen, und nie, nie wäre es vorstellbar gewesen, dass irgendjemand jemals Horst Stimpel würdig würde ablösen können. Dieser lag mir damals regelmäßig in den Ohren, ich möge den Alexander als seinen Nachfolger gewinnen, und genauso regelmäßig gab ich zur Antwort, dass dieser abwinkt und einfach nicht will. „Bleiben Sie dran!“, riet Stimpel – und behielt recht. Das scheinbar Undenkbare wurde wahr: Die „Mädels“, wie Alexander die Teilnehmerinnen der Seniorenbibelstunde immer respektvoll nannte, liebten ihren neuen, unglaublich belesenen, bibelfesten Bibelstundenleiter bald genauso wie seinen Vorgänger. Sie hörten gern, was Alexander und oft auch die vielzitierte Oma vom Alexander zum Tagesthema zu sagen hatten, und berieten gelegentlich kichernd, welche von ihnen denn eigentlich dieser schöne Mann zum Altar führen könnte. Dabei liegt ihm jede Art von Romantik fern. Geschenke werden von ihm zwar mit Liebe ausgesucht, dann aber ohne Geschenkpapier und jedes überflüssige Wort überreicht mit einem schlichten „da!“.
Als ich ihm mal ein Armband verehrt hat, bemerkte er lediglich, „ich war so froh, als ich des alte endlich verloren hatte….!“ Umarmungen und andere Sentimentalitäten vermeidet er geflissentlich, und pathetische Sympathiebekundungen quittiert er mit einem sonoren „no….!“ Dabei ist er es, der zweimal im Jahr allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Großfamilien von Schokoladennikoläusen und -osterhasen in ihre Fächer stopft; und als ich am dritten Tag nach der Entbindung mit dem Neugeborenen im Sonntagsgottesdienst stand, damit er sein Patenkind segnet, da war er tatsächlich gerührt. Wir haben viele Gemeindeglieder gemeinsam zu Grabe getragen. Wenn es zeitlich möglich war, begleitete mich Alexander als Kreuzträger auf den Friedhof, und bei Menschen, die er gekannt und geschätzt hatte, übernahm er Lesungen und Gebete. Für manche hat er sogar die Ansprache mit vorbereitet, und als ich meinen Vater beerdigen musste und mir die Stimme versagte, hat Alexander mit größter Selbstverständlichkeit übernommen. Unzählige Anfragende mussten wir freundlich drauf hinweisen, dass der „nette junge Mann mit dem roten Kragen am Talar“, von dem sie getraut oder dem sie das Kind zur Taufe bringen wollten, kein Pfarrer ist, sondern der weltbeste Stadtkirchner, der aber sicher gerne das Taufwasser wärmt, die Kirche herrichtet und die Glocken läutet. Wir sind gemeinsam nach Siebenbürgen geflogen und haben Professor Ebers Kinderheim in Gheorgeni besucht; wir sind in Schlesien die Geburtsorte seiner „Mädels“ abgefahren, und Alexander hat unter vielen Ortsschildern feierlich „Heimaterde“ in Tütchen abgefüllt und sie den damals Vertriebenen mit in die neue Heimat nach Laim gebracht. Wir haben in den fünf gemeinsamen Dienstjahren möglicherweise so viel skurriles, schmerzliches, schönes und kostbares miteinander erlebt, wie es anderswo kaum in der dreifachen Zeitspanne möglich wäre, und wenn mal wieder ein Streckenabschnitt geschafft war, stellte Alexander zufrieden fest: „So schön war ́s doch scho lang nimmer.“
Lieber Alexander, ich war gern in Paul-Gerhardt, und das verdanke ich zum allergrößten Teil dir und der ganz speziellen, wunderbaren Zusammenarbeit. Gott ist der Mittelpunkt der Gemeinde und du ihre Seele, und ich kann mir nicht vorstellen, dass allen wirklich bewusst ist, was sie an dir und deinem Engagement für Gott und die Kirche haben. Ich dank dir für alles („no…!“). Ich freu mich auf die Fortsetzung all deiner wunderbaren Abenteuergeschichten („blühender Blödsinn!“) und gratulier dir von Herzen zur Silberhochzeit mit Mutter Kirche.
Von Pfarrerin Kathrin Frowein (2001 – 2006 Pfarrerin in Paul-Gerhardt)