Im Neuen Testament gibt es eine kleine Episode, über die ich noch nie eine Predigt gehört – und auch noch nie eine gehalten habe. Dabei ist die Szene überaus nachdenkenswert, vor allem mit Blick auf unser Thema Ökumene. Da sagt nämlich der Jünger Johannes zu Jesus: »Meister, wir sahen einen, der trieb Dämonen in deinem Namen aus, und wir verboten´s ihm, weil er uns nicht nachfolgt.« Über-setzt in unsere Zeit: Da ist einer im Namen des Herrn unterwegs, aber das geht doch nicht, weil der gar nicht zu unserer Kirche gehört! Bis heute gibt es christliche Gemeinden und ganze Kirchen, die nach diesem Grundsatz glauben, denken und handeln: Rechtgläubig und ein wahrer Jünger Jesu ist nur, wer zu unserem Club gehört.
Aber auch innerhalb des christlichen Clubs, innerhalb der Urgemeinde, offenbarten sich schon ganz früh gewisse Gegensätze, welche die Einheit zu gefährden drohten. So erzählt uns etwa die Apostelgeschichte von einem Konflikt zwischen den hebräischen und den griechischen Christen in Jerusalem, von ihrem geistlichen Hintergrund her zwar allesamt Juden, nur dass erstere im Mutterland Israel verwurzelt waren, während letztere aus der so genannten Diaspora kamen, d.h. griechisch sprachen und griechisch dachten, und diese simple Tatsache allein führte dann schon zu Animositäten. Ein neuer Graben tat sich auf, als Christen in die Gemeinde kamen, die keinerlei jüdische Sozialisation erfahren hatten, sondern vor ihrer Bekehrung Heiden waren, Götzenanbeter. Auch jetzt wurde wieder um die Einheit gerungen auf einem »Apostelkonzil«. Mit der Verbreitung des christlichen Glaubens im gesamten Römischen Reich entstand dann ein Gegensatz, der im Mittelalter zur ersten großen Kirchenspaltung führte, der Spaltung zwischen der Ost- und der Westkirche. Natürlich spielten bei diesem Schisma auch theologische Fragen eine Rolle, aber letztlich war es wohl der Gegensatz zwischen einer griechisch und einer lateinisch sprechenden Christenheit, der zum Bruch führte.
Der geneigte Leser dürfte schon bemerkt haben, dass ich wiederholt auf sprachliche und kulturelle Unterschiede Bezug nehme und geistlich-theologische Lehrfragen eher links liegen lasse. Der Grund dafür ist eine Beobachtung, die man bis zum heutigen Tag machen kann: Oftmals wird bei innerkirchlichen Konflikten zwar theologisch argumentiert, wo in Wahrheit eher soziokulturelle oder mentalitätsbedingte Unterschiede eine Rolle spielen.
Doch setzen wir unseren begonnenen Streifzug durch die Kirchengeschichte bzw. durch die Geschichte der Kirchentrennungen weiter fort. Im 16. Jahr-hundert geht ein neuer Riss durch die Kirche, genauer gesagt: durch die Kirche des römischen Papstes bzw. des Westens: Die Reformation, deren Ergebnis ja auch wir Lutheraner sind. Aber längst nicht allein! Die Christen, die sich von Rom lossagen, sind alles andere als eine geschlossene Gemeinschaft, sondern nennen sich entsprechend ihrer Herkunft, Geschichte und Theologie Reformierte bzw. Calvinisten, Anglikaner und Lutheraner, Täufer bzw. Mennoniten, später Baptisten, Methodisten und Quäker. Zu dieser bunten Welt des Protestantismus kommt dann zu Beginn des Jahrhunderts noch die Pfingstbewegung. Und wir dürfen gewiss sein, dass auch in der Zukunft neue geistliche Bewegungen und neue Kirchen entstehen werden.
Natürlich kann man die hier skizzierte Entwicklung, also die fortschreitende Aufgliederung der ganzen Christenheit in unzählige Kirchen und Denominationen, rundweg positiv sehen als Ausdruck gottgewollter Vielseitigkeit, so wie wir sie ja auch in seiner Schöpfung dankbar bewundern. Auf der anderen Seite sprechen Jesus und das gesamte Neue Testament immer nur von der EINEN Kirche, und folgerichtig tut das auch das Apostolische Glaubensbekenntnis. Aber wo, wie anfangs erwähnt, einzelne Gruppen und Kirchen für sich den Anspruch erheben, die einzig Wahren zu sein, sind wir von dieser EINEN Kirche nicht nur äußerlich, sondern auch geistlich meilenweit entfernt. Dem gilt es daher entgegenzuwirken, und zwar auf allen Ebenen.
Im 20. Jahrhundert entstand die weltweite ökumenische Bewegung, sichtbarster Ausdruck dieser Bewegung ist bis heute der Ökumenische Rat der Kirchen mit Sitz in Genf. Hier findet auf höchster Ebene – theologisch wie institutionell – der Dialog zwischen den Kirchen statt, namentlich zwischen der protestantischen Welt und der römischen Kirche, aber parallel dazu auch mit den Orthodoxen. Viele Etagen tiefer ist aber längst eine Ökumene vor Ort entstanden, und die ist mindestens genauso wichtig. Auch für uns in der Paul-Gerhardt-Kirche ist es völlig normal, dass wir Kontakt pflegen sowohl zu den katholischen Nachbargemeinden als auch zu all den anderen Kirchen und Gemeinschaften, die letztlich aus der Reformation hervorgegangen sind. Und jedes Mal, wo diese Verbindung miteinander und untereinander geschieht, zeigt sich die eine Kirche, die Kirche Jesu Christi und der Apostel.
Wenn wir noch einmal einen Blick zurück werfen auf die oben skizzierte Entwicklung der letzten 2000 Jahren, dann drängt sich uns das Bild eines Baumes auf mit seinen im Erdreich verborgenen Wurzeln, mit seinem Stamm und mit den unzähligen Ästen und Zweigen, welche aus ihm erwachsen sind und immer noch weiter gen Himmel streben. So ein (Öl-)Baum ziert ja auch ganz bewusst unsere Titelseite und soll uns zur Demut gemahnen, uns daran erinnern, dass wir Lutheraner nur ein Ast sind am großen und alten Baum der Kirche – nicht mehr, aber auch nicht weniger!
Wie ging eigentlich die Episode weiter mit jenem Mann, der im Namen Jesu unterwegs war, aber nicht zu seiner Jüngerschaft gehörte? Was hat Jesus dem ärgerlich-besorgten Johannes damals geantwortet? »Jesus aber sprach: Ihr sollt´s ihm nicht verbieten. Denn niemand, der ein Wunder tut in meinem Namen, kann so bald übel von mir reden. Denn wer nicht gegen uns ist, der ist für uns.« Hier offenbart Jesus doch eine echt weitherzige, eine geradezu ökumenische Haltung. Jesus freut sich an den Wundern, die andernorts geschehen – durch die Kraft seines Namens! – und er sieht in dem fremden Mann einen Freund und Verbündeten. Jesus zeigt uns, wie wir die sehen und behandeln sollen, die nicht unserer Kirche angehören, die vielleicht manches auch anders sehen und angehen als wir, die sich aber auf den einen Jesus Christus berufen und ihre Kraft aus ihm schöpfen.
Womit wir noch einmal bei unserem Baum wären: So verzweigt und unübersichtlich seine Krone auch ist – sein Stamm, sprich sein Herkommen, ist einer und er vermag nichts ohne seine Wurzeln: »Ohne mich könnt ihr nichts tun«, sagt Jesus: Ihr alle, ganz gleich welcher Kirche und Konfession!
Pfarrer Lorenz Künneth
Artikel aus dem Gemeindebrief Herbst 2022, dort finden Sie auch weitere Artikel zu dem Thema.