Von liturgischen Formen und evangelischer Freiheit

Eine kleine Gottesdienst-Geschichte
Themenreihe: Gottesdienst

Wie haben eigentlich die ersten Christen Gottesdienst gefeiert?

Diese Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten, weil im gesamten Neuen Testament kein einziger Gottesdienstablauf überliefert ist und es diesbezüglich auch keine verbindlichen Vorgaben gibt, etwa aus den Briefen des Apostels Paulus. Wir können eigentlich nur eins und eins zusammenzählen, um ein ungefähres Bild der damaligen „Liturgie“ zu bekommen. Zum einen diente der Urgemeinde ganz gewiss der jüdische Synagogengottesdienst als Vorbild. Gesang und Gebet, Lesungen aus den Heiligen Schriften und Auslegung ihrer Texte – dies alles kannten die ersten Christen von Kindesbeinen an und übernahmen es einfach für ihre Versammlungen.

Zum anderen gibt es durchaus den einen oder anderen Vers aus dem Neuen Testament, der uns bei unserer Frage weiterhelfen kann. Zum Beispiel schreibt Paulus in seinem 1. Brief an die Korinther (14,26ff.): „Wenn ihr zusammenkommt, so hat ein jeder einen Psalm, er hat eine Lehre, er hat eine Offenbarung, er hat eine Zungenrede, er hat eine Auslegung…“ Hier wird bereits eines deutlich: Die urchristlichen Gottesdienste lagen nicht in der Hand eines einzelnen Geistlichen oder weniger Auserwählter. Nein – vielmehr konnte und sollte sich jeder mit seinen jeweiligen geistlichen Gaben einbringen. Und wenn es wohl auch eine gewisse Ordnung gegeben hat, so waren diese Feiern in ihrem Charakter doch ziemlich frei, bunt und spontan, „wie der Geist es ihnen eingab“.

Aber schon bald wurde das anders und im Laufe der folgenden Jahrhunderte wurde der Ablauf des christlichen Gottesdienstes nicht nur einheitlicher und reglementierter, sondern lag auch ausschließlich in der Hand des so genannten „Klerus“, während das breite Kirchenvolk immer mehr zu passiven Zuschauern degradiert wurde. Die klassischen Messformen der katholischen wie der orthodoxen Kirchen sind bis heute Ausdruck dieses Verständnisses.

Dann kam die Reformation und ihr Versuch, „ad fontes“, d.h. zu den Ursprüngen der Kirche zurückzukehren, auch in punkto „Gottesdienst“. In seiner berühmten Vorrede zur „Deutschen Messe“ träumt Martin Luther von einer Art Gottesdienst, wie sie der oben zitierte Korinthertext wiedergibt, „aber ich kann und mag eine solche … Versammlung noch nicht anweisen oder errichten, denn dazu habe ich noch keine Leute und Personen, wie ich auch nicht viele sehe, die sich dazu drängen“. Und so blieb doch wieder das Meiste beim Alten.

Erst als zu Beginn des 20. Jahrhunderts die ersten Pfingstkirchen entstanden und später die charismatische Bewegung viele der traditionellen Kirchen erfasste, kam wieder Bewegung in den Gottesdienst, und zwar in verschiedener Hinsicht. Nicht mehr nur Pfarrer durften nun das Wort ergreifen, sondern auch theologische Laien, beim Gebet, beim persönlichen Glaubenszeugnis, auch in der Verkündigung.

Lobpreis im Spätgottesdienst, Foto: Heinrich Eber

Der Gesang der Gemeinde wurde nicht mehr ausschließlich von der Orgel begleitet, sondern von diversen Instrumenten, einer richtigen Band. Natürlich waren auch die Lieder und Choräle der vergangenen Jahrhunderte „Lobpreis“ und „Anbetung“, aber durch das vielfach unreflektierte Absingen der alten Texte und Melodien war der Bezug zum persönlichen Glauben oft verloren gegangen. Neue Melodien und neue Rhythmen zu oft uralten biblischen Texten – das war das wesentliche Element für die nun entstehenden „freien“, will sagen „unliturgischen“ Gottesdienste.

Unser so genannter „Spätgottesdienst“ liegt ganz auf der Linie dieser Entwicklung. Zwar besteht er als Institution bereits seit 1968, aber in seiner heutigen Form ist er erst rund 10 Jahre später entstanden und hat sich seitdem natürlich immer wieder verändert und erneuert. Unser Spätgottesdienst ist keineswegs besser, frömmer, geistlicher als unser „Hauptgottesdienst“ oder andere verwandte Formen. Und doch knüpft er stärker an die neutestamentlichen Ursprünge des christlichen Gottesdienstes an und ist auch deshalb „gut lutherisch“, weil sich in ihm der Wunsch der Reformation nach evangelischer Freiheit und protestantischer Schlichtheit manifestiert.

Pfarrer Lorenz Künneth

Weitere Beiträge zur Themenreihe Gottesdienst im Gemeindebrief Frühjahr 2021 und hier online.